2 Tage hungern: Eine Lebenserfahrung: "Taarof"

05.12.2018 CJD Nienburg « zur Übersicht

Die kulturellen Unterschiede machen die Welt bunter und schöner. Eine Schönheit, die manchmal anstatt Abwechslung Probleme mit sich bringt, wie z.B. beim „Taarof“. Nach Definition der renommiertesten persischen Enzyklopädie bedeutet Taarof eine übertriebene Danksagung und Wertschätzung. Es ist ein sehr gängiger Brauch in Afghanistan aber nicht in Deutschland. Heute ist mein erster Ausbildungstag im RTL Fernsehen. Ich bin heute deutscher als deutsch und komme sogar ein paar Minuten früher als abgesprochen im Büro an. Der Preis dafür war, dass ich ohne Frühstück losgegangen bin. Die Zeiger der Uhr kriechen ganz langsam Richtung Mittag. Oder ist es mein Hunger, der mir das so vorkommen lässt?? Aber Geduld zahlt sich in der Regel aus. Ich erwarte, dass ich nach Stunden des Zwangfastens mit meinen Kollegen zu Mittag esse. Ich bin sicher und freue mich, dass Kartoffeln dabei sind. Meine Gedanken schweifen nach Afghanistan zurück: Unser Büro, die Mittagspause, Bohnen, Fleischeintopf, manchmal auch Auberginen mit Reis und die herrliche Stimme unseres Kochs, die zum gemeinsamen Essen aufrief. Meine nette, gutaussehende und blonde Kollegin sitzt neben mir. Bis vor ein paar Minuten war sie nett und freundlich zu mir. Seitdem sie ihr Essen aus der Küche geholt hat, wirkt sie ganz anders. Sie arbeitet und isst nebenbei. Manchmal schaut sie mich auch an. Macht aber kein einziges Mal Taarof, ob ich was mitessen möchte!!!!! Sind alle netten und freundlichen Deutsche so? Sie reden mit dir, lächeln dich an, essen aber ihr Essen vor deinen Augen alleine und machen nicht mal Taarof??? Der andere Kollege sitzt vor mir. Er schaut auf seinen Monitor und stochert mit seiner Gabel im Gemüse und den Salat, die er mithat. Auch er ist geizig! Nicht mal ein paar grüne Blätter möchte er abgeben!! In Afghanistan läuft es ganz anders. Man möchte eigentlich sein Essen, sein Auto, sein Handy oder seine Kleider nicht teilen, aber macht trotzdem Taarof und zwar nicht nur ein mal. Immer wieder bietet man Alles an: Bitte, bedienen sie sich, das ist für Sie. Und der Andere, selbst wenn er keinen Hunger hat, isst etwas, um nicht unhöflich zu wirken. Aber auch wenn er Hunger hat, lehnt er immer wieder ab mit der Begründung, dass er keinen Hunger hat und isst nur ganz wenig mit. In der Zwischenzeit haben alle Kollegen ihr Essen aus der Küche oder aus der Tasche geholt. Nicht mal ein einziger Kollege bietet mir etwas an!!!! Für mein Verständnis als ein Afghane, der seit einiger Zeit in Deutschland lebt, ist es die absolute Unhöflichkeit! In unserer Kultur ist so ein Verhalten schier unmöglich! Mit unerträglichem Hunger, umzingelt von leckeren Speisen und herrlichen Düften, schwinden meine Kräfte zunehmend. Ich schaue nur noch auf die Uhr auf meinem Monitor, wann die Stunde der Freiheit aus diesem Hungergefängnis schlägt. Heute Morgen bin ich hungrig ins Büro und heute Abend verlasse ich das Büro noch hungriger. Aber dies war eine wichtige Lektion für mich: In Deutschland ist jeder für das Essen selbst verantwortlich. Es ist nicht wie in Afghanistan, wo nur einige kochen und der Rest isst mitisst. Eine Stunde später komme ich zu Hause an, gebe meiner Frau ein Küsschen im Vorbeigehen und überfalle den Kühlschrank. Beim Essen erzähle ich diee Leidensgeschichte meiner Frau. Sie lacht sich kaputt und verspricht, mir ab morgen eine Lunchbox mit leckeren afghanischen Speisen mitzugeben. Am nächsten Tag bekomme ich eine Portion für mindestens 4 Personen mit: Meine Frau ist der Meinung, dass ich selbstverständlich meinen Kollegen rechts und links auch etwas anbieten sollte. Heute ist alles wie gestern: Gegen Mittag fangen alle an zu essen, natürlich ohne Taarof. Ich entscheide mich für den deutschen Weg: das Essen aus der Tasche holen und alles ganz alleine essen. Es ist nicht einfach, aber heute möchte ich diese Kultursünde begehen. Aber irgendwie kann ich es nicht. Wie soll ich es machen? Soll ich es nur einem anbieten und den anderen nicht? Oder soll ich es allen anbieten? Was ist, wenn die es doch annehmen, jeder nimmt ein Happen und nachher bleibt nichts für mich übrig? Dann bleibe ich wieder hungrig. Taarof? Kein Taarof? Das Dilemma ist so groß, dass ich mein Essen gar nicht auspacke und am zweiten Tag erneut hungrig das Büro verlasse. Im Zug halte ich es nicht aus. Neben mir sitzt ein etwa 50jähriger Mann mit einem Buch in der Hand und einer Brille auf der Nase. Ich packe mein Essen aus und kulturreflektorisch mache ich Taarof! Der Mann klappt sein Buch zu, bedankt sich und fängt an zu essen. Ich habe noch kein Bissen zu mir genommen! Der Mann mit der Brille: Das ist sehr lecker! Wo haben Sie es gekauft? Ich lachend: bei meiner Frau Unterwegs erzähle ich ihm meine Geschichte von gestern und heute. Er lacht herzlich und isst dabei weiter. Das Essen ist aufgegessen und der Zug erreicht Nienburg. Ab morgen werde ich mit KEINEM Taarof machen! Und ich werde mich bemühen, die Bräuche der Gesellschaft, in der ich lebe, besser kennenzulernen.